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Zeit

Unerbittlich brennt die hochstehende Sonne auf ihre Haut. Nur ein paar einsame Wolken, die ausgelaufener Milch ähneln durchziehen den ansonsten azurblauen Himmel. Jeder Muskel in ihrem Körper brennt wie Feuer, doch sie ignoriert den Schmerz, lässt sich vom Adrenalin das durch ihre Venen jagt leiten. Zwei, drei qualvolle Schritte noch, dann geben ihre Beine nach. Sie sinkt auf die Knie, ergibt sich einen Moment lang dem Willen ihres geschundenen Körpers. Der Boden auf dem sie kauert ist hart und staubig, an einigen Stellen ist der Asphalt aufgerissen, so das sich Gräser ihren Weg in die Welt bahnen konnten. Mühsam umklammern ihre schweißnassen Hände das Geländer über ihr, mit Tränen in den Augen zieht sie sich daran hoch. Es kommt ihr vor als würde ihr Körper plötzlich Tonnen wiegen und nicht mehr nur fünfzig Kilogramm. Unsicher und auf wackligen Knien steht sie an der Brüstung. Unter ihr schlängelt sich ein mächtiger schäumender Fluß, dessen lautes Tosen sie erst jetzt zu registrieren beginnt. Sie dreht den Kopf in die Richtung aus der sie gekommen ist und blickt auf den dunklen, friedlich wirkenden Wald, der Ruhe und Kühle verspricht. Dennoch kehrt sie ihm den Rücken und wendet sich der vor Hitze flirrenden Straße zu. Die Zeit drängt. Vor ihr liegt noch ein weiter Weg. Sie greift zu ihrer Tasche holt die Flasche mit dem tröstenden Nass heraus. Setzt sie an. Leer. 

Über den Ohrenbetäubenden Lärm des unter ihr fließenden Wassers hinweg, vernimmt sie ein weiters Geräusch. Sie kommen.

Die Flasche die sie grade noch in der Hand gehalten hat fällt zu Boden, rollt ein Stück abseits. Erst jetzt erwacht sie aus ihrer Starre. Obwohl sich ihre Beine wie flüssiger Brei anfühlen, rennt sie los. Zunächst langsam, um ihre Muskeln vor einer Übersäuerung zu schützen. Ein Krampf wäre das letzte was sie jetzt gebrauchen könnte. Sie schaut nicht mehr zurück, sie weiß das sie ihr auf den Fersen sind. Schneller immer schneller bewegen sich ihre Beine, bis sie im Gleichschritt sind. Wie in Trance bahnt sie sich ihren Weg, vorbei an leuchtend gelben Rapsfeldern und saftig grünen Wiesen, in deren Mitte sie unter anderen Umständen mit Sicherheit verweilt hätte. Doch jetzt, in diesem Augenblick nimmt nichts mehr wahr, nicht den Schweiß, der ihr in Bächen den Rücken und die Arme hinabläuft, nicht die schwarz gefiederten Krähen die sie mit ihrer plötzlichen Anwesenheit aufschreckt und auch nicht den scharfgeschnittenen Stein, der ihr in den Schuh gerutscht ist und sich nun versucht in ihren Fuß zu bohren. Die Geräusche hinter ihr werden lauter, sie gerät aus dem Tackt, stolpert, stürzt zu Boden. 

In ihrem Mund vermischen sich der Geschmack von Sand und Blut zu einer übelkeitseregenden Masse. Tränen der Wut und der Erkenntnis rinnen ihr über das staubbedeckte Gesicht und lassen es wie eine kindische Kriegsbemalung aussehen. Sie hat ihre Chance vertan. 

Eine Hand packt sie grob am Arm, zieht sie wieder auf die Beine. Augen, dunkel wie ein tiefer Bergsee mustern sie. Ein Nicken beantwortet seine stumme Frage. Ohne ein Wort wendet er sich ab, lässt sie stehen. Ihre Augen folgen seiner immer kleiner werdenden Silhouette, bis diese an der nächsten Biegung verschwunden ist. Ihr maltratierter Knöchel schreit nach Gnade, doch sie gewährt sie nicht. Humpelnd und dreckverschmiert bewegt sie sich in dieselbe Richtung die ihre Verfolger genommen haben. Innerlich rüstet sie sich vor dem unausweichlichem. Richtet sich zu voller Größe auf, drückt die Bleischweren Schultern durch. Schließt für eine Sekunde die Augen, kehrt in sich. Riecht den süßen, pudrigen Duft des Rhododendrons und den herben Geruch ihres eigenen frischen Schweißes. Wie lange hat sie auf diesen Tag gewartet und nun ist alles verloren. 

Müde und abgekämpft erreicht sie den kleinen, ihr so vertrauten Schotter Platz. Jegliche Magie hat diesen Ort verlassen. Es ist jetzt einfach nur ein viel zu kleiner Platz an dem sich viel zu viele Menschen befinden. Ihr Magen krampft sich zusammen als die Unbekannten sie anstarren und ihr applaudieren. Sie möchte ihrer Wut Luft verleihen, diese verlogenen Narren anschreien, was ihnen einfällt sie zu verspotten. Hat sie doch verloren. Doch sie lächelt nur. Wendet sich von der menge ab. 

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